Vor 35 Jahren erschien mit ENDLESS PAIN das Debütalbum von KREATOR. Heute sind die Essener eine der wichtigsten (Thrash-)Metal-Bands der Welt. Ihr großartiges 2017er-Album GODS OF VIOLENCE besetzte Platz 1 der deutschen Albumcharts, die anschließende Welttournee war die erfolgreichste der Bandgeschichte. Nach 150 Konzerten fand sie ihren krönenden Abschluss im ehrwürdigen Londoner Roundhouse, das bereits PINK FLOYD, LED ZEPPELIN, THE DOORS, THE ROLLING STONES oder DAVID BOWIE beehrten. Folgerichtig konservieren KREATOR diesen Abend mit der Live-CD bzw. Live-DVD/Blu-ray LONDON APOCALYPTICON – LIVE AT THE ROUNDHOUSE (VÖ: 14.02.2020). Und weil Bandgründer, Sänger und Gitarrist Miland „Mille“ Petrozza ausgewiesener (Horror-)Filmexperte ist, bitten wir ihn folgerichtig zum Interview.
DEADLINE: Mille, KREATOR dürfte die Band sein, die ich am öftesten live gesehen habe. Allein zum letzten Album dreimal.
MILLE: Das klingt cool! Ich hoffe, dir gefällt es immer noch.
DEADLINE: Absolut! Dass ich euch so oft gesehen habe, ist auch kein Wunder, ihr spielt unheimlich viel live – im April seid ihr ja auch wieder auf Tour durch Deutschland.
MILLE: 2019 hatten wir eine Livepause, bis auf zwei Auftritte in Chile. Wir werden 2020 exklusiv diese Tour in Europa spielen und keine Festivals. Man sieht uns also in nächster Zeit nicht so oft live, weil wir auch am neuen Album arbeiten. Das soll Sommer 2021 kommen.
DEADLINE: Das nenne ich mal einen groß angelegten Zeitplan!
MILLE: KREATOR hat für mich eine große Relevanz. Ich möchte nicht irgendwas rausbringen, nur weil wir zwei oder drei Jahre kein Album rausgebracht haben. Ich muss etwas zu sagen haben! Die Musik, die wir rausbringen, muss erst mal meinen Qualitätscheck und den der Band bestehen. An sich habe ich das Album auch schon fertig geschrieben! Aber ich warte auf noch bessere Songs.
DEADLINE: Jetzt veröffentlicht ihr ja eure neue Live-CD. Ist die als Statement gedacht: „Dafür stehen wir live!“, oder fungiert sie eher als Lückenfüller bis zum nächsten Studioalbum?
MILLE: Na ja, da hast du eigentlich schon recht … Von KREATOR gibt es schon sehr viele Live-Veröffentlichungen … Aber es ist schon gut, wenn man zwischendrin ein Lebenszeichen von sich gibt. Dafür sind Live-Alben ganz gut, weil die Leute sehen können, wie sich die Songs mit der Zeit entwickelt haben. Wir haben LONDON APOCALYPTICON auf dem letzten Konzert der Tour zu GODS OF VIOLENCE aufgenommen. Dementsprechend klingen die Songs anders und ausgereifter als auf dem Album.
DEADLINE: Was mir an LONDON APOCALYPTICON sofort aufgefallen ist: Das Ding hat einen unfassbar massiven Sound, vor allem, was das Schlagzeug angeht!
MILLE: Wir haben nichts nachträglich neu eingespielt, wie man es Bands oft nachsagt, aber natürlich im Mix nachbearbeitet. Wobei du bei Ventor gar nicht viel nachschönen musst, er haut rein wie ein Berserker! Alles, was du auf dieser CD hörst, ist also wirklich live.
DEADLINE: Habt ihr euch für die Live-DVD-Variante ein besonderes stilistisches Konzept überlegt?
MILLE: In erster Linie war uns wichtig, dass die Fans wissen, was sie erwartet, wenn sie uns live sehen. Wir arbeiten mittlerweile mit vielen Showeffekten wie Pyros und LED-Wänden. Wir machen aus einer KREATOR-Show ein Multimedia-Happening. Die Leute sollen wissen, dass bei uns nicht einfach nur eine Metalband auf der Bühne steht, sondern dass wir Unterhaltung bieten, die passend zu den Texten passiert. Wir sind anders als die anderen Metalbands! Und das kommt bei der DVD gut rüber.
DEADLINE: Eure aktuelle Show ist nicht nur anders als die anderer Metalbands – sie ist auch aufwendiger, als man es bei euch bisher erlebt hat! War mit ein Grund dafür, dass ihr mit GODS OF VIOLENCE ein Nummer-1-Album im Rücken hattet?
MILLE: Ich bin der Meinung: Wenn du von großen Festivals wie Summer Breeze oder Wacken als Headliner eingeladen wirst, hast du auch die Verantwortung, den Fans etwas zu bieten. Da sollen alle Spaß haben und was fürs Auge geboten kriegen, auch die, die weit hinten stehen und einfach nur schauen wollen. Und wir sind in der privilegierten Lage, unsere Vorstellungen umsetzen zu können. Ob das jetzt mit Platz 1 zusammenhängt …? In unseren Köpfen hat es schon immer so aussehen sollen, wie es jetzt aussieht. Heute ist das Budget ein anderes, ja. Aber wir haben auch schon in den 1990ern versucht, mit den damaligen Mitteln theatralisch ausgefeilte Shows zu bieten. Ein Metalkonzert soll ein richtiges Erlebnis sein!
DEADLINE. Was ich an eurer 2013-Live-DVD DYING ALIVE so stark fand: Ihr habt Kameras mitten im Publikum positioniert. Das Gefühl, das ich habe, wenn ich bei euch im Moshpit bin, transportiert ihr so super ins heimische Wohnzimmer. Sind solche Elemente jetzt auch wieder mit drin?
MILLE: Wir haben diesmal anders gearbeitet. Bei der London-Show liegt der Fokus auf den visuellen Geschichten und der Atmosphäre.
DEADLINE: Abgesehen vom Intro und den vier Songs von GODS OF VIOLENCE: Alle anderen Titel von LONDON APOCALYPTICON stehen schon auf DYING ALIVE …
MILLE: Deshalb bringen wir eine Earbook-Edition heraus mit zwei weiteren kompletten Konzerten. Eines ist in Chile aufgenommen, das andere beim Festival Masters of Rock in Tschechien. Da bekommst du noch mal ganz andere Songs, auch obskure Sachen! Aber ich gebe zu: Um die Dramaturgie eines Konzerts interessant zu gestalten, musst du die Hits spielen, und die wiederholen sich immer … Da hat man echt ein Problem! Auf der anderen Seite sind Live-Alben ein Angebot an Fans, die ein Souvenir von der Tour haben wollen. Ich bin selbst ein Nerd und kaufe mir Live-Alben, weil ich wissen will, wie der Song, den ich schon in 15 Versionen gehört habe, jetzt klingt. Aber ich sage offen: Es ist ein zweischneidiges Schwert.
DEADLINE: Ich kann euer Problem gut nachempfinden … Wenn du jetzt sagen würdest: Matthias, hier ist unsere Setlist, welche Songs würdest du streichen? – ich könnte euch gar nicht helfen, weil ich der Erste wäre, der euch ins Kreuz springt, wenn „Pleasure to Kill“ fehlt.
MILLE: Richtig. Und wenn du unbekanntere Songs spielst, merkst du, dass die Stimmung abfällt. Wir haben mit der Band schon drüber gesprochen, ob wir mal eine Tour machen, wo wir nur Songs bis 1992 spielen. Bei IRON MAIDEN passt das! Aber ich lebe viel zu sehr in der Gegenwart, als dass ich so was machen würde.
DEADLINE: Wie schaffst du es dann, dass dir eine Tour mit 150 Konzerten nicht langweilig wird?
MILLE: Auch wenn du jeden Abend dieselben Songs spielst, ist trotzdem jeder Abend anders! Was ein Konzert interessant macht, sind die Performance der Songs und die Reaktion des Publikums. Stell dir das wie ein Theaterstück vor: Auch da ist jede Aufführung anders, obwohl du im Prinzip immer dasselbe machst. Wir sind keine Jam-Band, die auf Zuruf Songs spielen kann, einfach weil unsere Stücke mit Effekten und so weiter verbunden sind. Aber es gibt andere Dinge, die die Energie hochhalten. Zum Beispiel das Publikum, das jeden Abend an anderen Stellen anders reagiert und einen immer wieder überrascht. Ich sehe das auf einer spirituellen Ebene: Du gehst in einen Raum, du gibst ein Konzert für Leute, die kommen, um dich zu sehen, und du musst es schaffen, diesen Raum mit Energie zu füllen! Das ist mein Anspruch an mich selbst. Das klappt auch nicht jeden Abend gleich gut. Aber selbst bei den eher routinierten Konzerten kommen hinterher Leute zu dir, die dir sagen: „So gut hab ich euch noch nie gesehen!“
DEADLINE: Ihr füllt die Räume mit Energie dank eurer Musik, aber natürlich auch dank deiner legendären Ansagen. Ein KREATOR-Konzert ohne deinen Aufruf, dass wir uns alle gegenseitig umbringen sollen, ist unvorstellbar …
MILLE: Hahaha!
DEADLINE: Inwieweit machen dir diese Ansagen noch Spaß, und inwieweit denkst du dir: Jetzt erzähl ich schon wieder denselben Käse?
MILLE: Ich sehe das mit Humor und als Unterhaltung. Ich weiß natürlich, dass das polarisiert: Viele Leute freuen sich, und viele sagen: Was soll das denn jetzt, spiel lieber den nächsten Song!
DEADLINE: LONDON APOCALYPTICON ist aufgenommen worden auf dem „European Apocalypse“-Teil der Tour. Das Geile daran war das Package bestehend aus euch, DIMMU BORGIR, HATEBREED und BLOODBATH! Wie kam das zustande?
MILLE: Nach langer Vorbereitungszeit, weil du die Termine aufeinander abstimmen musst. Das war aber recht einfach, weil wir uns schon lange kennen und schätzen. Wir sind schon lange befreundet. Womit ich mich nicht beschäftige, sind die Dinge im Hintergrund: Wer braucht wie viel Geld und welche Effekte? Ich freu mich dann einfach, wenn solche Dinge stattfinden! Gerade aus Fansicht.
DEADLINE: Diese Package-Touren liegen ja im Trend – DIMMU BORGIR sind gerade wieder auf Doppel-Headliner-Tour mit AMORPHIS. Als Fan sehe ich das mit einem lachenden, aber auch mit einem weinenden Auge: Ich sehe hammergeile Bands für vergleichsweise wenig Geld. Auf der anderen Seite sind diese Tourneen total durchgetaktet. Einfach mal einen Song mehr spielen, weil man gerade beim Publikum besonders toll ankommt oder einfach Bock drauf hat, is nicht …
MILLE: Sehe ich genauso. Deshalb schrauben wir es auf der nächsten Tour runter. Wir nehmen mit LAMB OF GOD und POWER TRIP bewusst nur zwei Bands mit. Da werden wir alle mehr Spielraum haben und länger spielen können. Es ist so: Als Band willst du die großen Hallen spielen, weil du da die große Show auffahren kannst. Und du konkurrierst natürlich mit den Festivals: Da sehen die Leute 100 Bands für im Vergleich zu einem Einzelkonzert günstige Ticketpreise. Wobei wir eine der ersten Bands waren, die solche Package-Touren gemacht haben! Schon in den 1990ern waren wir mit DIMMU BORGIR unterwegs.
DEADLINE: Eine Package-Tour, die einschlagen würde: KREATOR, DESTRUCTION, SODOM, TANKARD, die sogenannten Big Teutonic Four!
MILLE: Hahaha! Wir versuchen die ganze Zeit, das wieder hinzubekommen. Aber wir haben terminlich Schwierigkeiten. Und es muss strategisch geplant sein, verstehst du? Es muss passen!
DEADLINE: Wenn ich mir heute ein KREATOR-Album kaufe oder zu einem KREATOR-Konzert gehe, weiß ich, was mich erwartet. In den 1990ern hattet ihr eine experimentelle Phase, in der ihr ganz anders geklungen habt als heute oder davor. Diese Zeit ist bei euren Fans immer noch stark umstritten. Wie bewertest du diese Phase?
MILLE: Ich bin ein großer Fan dieser Phase! Ich höre mir immer wieder diese Alben an. Sie waren kreativ und völlig frei. Ich bin großer Filmfan, und in den 90ern kamen die Dogma-95-Filme heraus (dänische Bewegung um Lars von Trier, die filmische Stilmittel auf das Mindeste reduzierte, indem unter anderem auf künstliches Licht und untermalende Filmmusik verzichtet wurde, Anm.). Also hab ich mit OUTCAST ein Album gemacht, auf dem kaum Soli vorkamen. Dann wollte ich ein Album komplett ohne schnelle Songs schreiben oder eines als Hommage an die Gothszene. Das waren für mich ganz wichtige Schritte in meiner künstlerischen Laufbahn! Ob das jetzt bei den Fans ankam … Ich weiß es nicht. Wir sind keine Dienstleister! Ich habe die Möglichkeit und die Gabe, mich kreativ auszudrücken. Und ich habe nur dieses eine Leben. Deshalb mache ich das so, wie mir das gefällt. Dieses Gefühl haben wir mit in die 2000er genommen, und ich finde, auf den letzten Alben haben wir einen guten Mittelweg gefunden: Wenn man richtig hinhört, hört man Einflüsse aus unseren 1990ern heraus. Dadurch, dass sie mit Thrash Metal vermischt sind, scheint es den Leuten besser zu gefallen, und wir können uns noch mehr ausleben.
Live-Clip von KREATOR – LONDON APOCALYPTICON