(c) David Scharfenberg und Michael Holzinger
(c) David Scharfenberg und Michael Holzinger

 

Er geht dorthin, wo kein Tod mehr ist … – Im Gespräch mit Robert Sigl, dem Regisseur von LAURIN

 

Robert Sigls erster Kinofilm sollte bis heute sein letzter für die große Leinwand bleiben. Für LAURIN wurde er zwar mit dem Bayerischen Jugendfilmpreis ausgezeichnet, doch war die Mehrheit des deutschen Film-Establishments zu borniert, um diesem besonderen Debütfilm die ihm gebührende Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Mit Mitte zwanzig hatte Sigl einen psychologisch komplexen Historienfilm in der Tradition des deutschen Horrorkinos inszeniert – unzumutbar für das Publikum, so die Meinung der kleinkarierten bundesdeutschen Zeitgenossen. Während LAURIN im Ausland zu einem kleinen Kultfilm wurde, musste Sigl seine persönlichen Visionen mit ihm anvertrauten TV-Projekten verflechten. Die Fernseh-Mehrteiler STELLA STELLARIS und LEXX ließen zwar Genreenthusiasten aufhorchen, doch wollte man ihm hierzulande einfach kein größeres Kinoprojekt anvertrauen. Dennoch, bei allen Zugeständnissen an das Medium tragen seine Tatorte und vor allem die TV-Filme SCHREI – DENN ICH WERDE DICH TÖTEN, DAS MÄDCHENINTERNAT und HEPZIBAH die deutliche Handschrift eines Autors und Horrorkenners, der darauf brennt, endlich eines seiner Herzensprojekte verwirklichen zu können.

LAURIN gilt heute als Kleinod des deutschen Genrefilms – aus den letzten Jahrzehnten haben wir davon nicht viele – und unter Kennern als Meisterwerk. Bildstörung sieht das genauso und beschert uns eine prächtige Veröffentlichung des Films. Über diesen und die Unzulänglichkeiten des deutschen Filmbusiness haben wir mit dem überaus sympathischen und herzlichen Robert Sigl für euch gesprochen.

 

DEADLINE: Es gibt verschiedene Meinungen darüber, ob man als Filmschaffender eine Filmhochschule besucht haben sollte oder nicht. Du warst auf der angesehenen Münchner Filmhochschule. Wie kam es aber überhaupt zu deiner Filmbegeisterung?

 

Robert Sigl: Ein einschneidendes Erlebnis war, als ich als kleiner Junge vor einem Kino die Aushangfotos und das Filmplakat zu TANZ DER VAMPIRE bestaunt habe. Die barocken Kostüme, das rote Kleid von Sharon Tate, der Schnee … Diese Begegnung hat mich derartig in den Bann gezogen, dass ich wusste, dass ich auch so etwas erschaffen will. Ich begann, selbst Kinoplakate für meine Filme zu zeichnen. Dafür nannte ich mich Robert Carter. Wenn ich dann alleine zu Hause war, spielte ich diese Filme für mich selber. Dabei übernahm ich alle Rollen. So riss ich etwa die Fenster auf – ich war damals schon sehr auf Suspense, Terror und Horror aus – und rief: „Hilfe, Hilfe!“ Die Nachbarn dachten, da wäre ein Wahnsinniger, und als meine Eltern davon erfuhren, bekam ich Fernsehverbot. Doch wie man heute sieht, hat das alles nichts genützt. (lacht) Einer der Filme hieß „The Skyscraper“. Ich wusste die ganze Zeit schon, dass ich Filmregisseur werden wollte, und habe das sehr konsequent verfolgt. Am Gymnasium haben wir Super-8-Filme gedreht, und sofort nach dem Abitur bin ich an der Filmhochschule aufgenommen worden.

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DEADLINE: Um heute an einer Filmhochschule aufgenommen zu werden, muss man einen langwierigen Prozess durchlaufen. Wie war das damals?

 

Robert Sigl: Eigentlich genauso. Meine Aufgabe war damals, eine eigene Fotoserie zu einer Sequenz in einem Film zu entwickeln. Ich habe da – natürlich – wieder etwas Makabres gewählt: Eine Bauernfamilie entsorgt einen Großvater mit einem Messer. Das muss die Kommission von den Einstellungen her sehr beeindruckt haben. Obwohl ich durch meine Interessen etwas verrufen war, wurde ich sofort genommen. Es war sehr leicht für mich, das muss ich wirklich zugeben. Von anderen habe ich ganz andere Geschichten gehört. Einige Studenten waren sehr verzweifelt, einer hatte sogar mal gedroht, sich umzubringen, sollte er nicht genommen werden.

Aber auch ich kenne diese Enttäuschung. In den letzten 30 Jahren ist es ja mehr als einmal passiert, dass Film- und Kinoprojekte von mir abgeschmettert wurden. Das ist kein leichter Weg – immer noch!

 

DEADLINE: Vor LAURIN hast du zwei Kurzfilme gemacht.

 

Robert Sigl: Die gingen thematisch in eine ähnliche Richtung. Es handelte sich hierbei um den sogenannten „Erwachsenen-Horror“. Ich habe mich schon während meiner Jugend ganz viel mit Tiefenpsychologie beschäftigt, auch mit dem Absurden Theater. Mein erster Kurzfilm hieß DIE HÜTTE, und darin ging es um eine Schwarzafrikanerin, die in einer Hütte dahinvegetiert und sich einbildet, dass ihr totes Baby noch leben und immer schreien würde. Am Ende stellt sich jedoch heraus, dass sie nur eine schwarze Puppe in einer Waschschüssel hat und ihre Hütte auf nichts weiter als einem Trümmerhaufen steht. Der Film wurde an der Hochschule sehr gut aufgenommen.

Danach habe ich DER WEIHNACHTSBAUM gemacht – der übrigens auch auf der LAURIN-Blu-ray von Bildstörung enthalten sein wird. Wir wollten auch DIE HÜTTE dazutun, doch leider ist der Film verschollen. DER WEIHNACHTSBAUM wurde an der Hochschule sehr schlecht aufgenommen, und man kam nicht mit dem Thema klar. Es ging um eine psychosexuelle sadomasochistische Beziehung zwischen einem Vater und seinem Sohn am Weihnachtsabend. Doch dafür ist man hier einfach nicht aufnahmefähig. Hier werden nur Boy-meets-Girl-Filme gemacht, und Filme über Banküberfälle sind noch das Äußerste, das man sich traut. Man hat eine solche Berührungsangst vor der Tiefenpsychologie. Man hat nicht vor dem Horrorfilm, sondern vor der Beschäftigung mit der Seele Angst.

Es ist wirklich erschreckend, wie sehr sich das in den letzten 30 Jahren immer weiter manifestiert hat. Ich erlebe gerade mit einem Filmprojekt genau die gleichen Schwierigkeiten wie damals. Ich arbeite zurzeit an dem Titel THE PINK TRIANGLE JEW. Darin geht es um einen KZ-Lagerkommandanten und einen minderjährigen, homosexuellen Juden. Na, da bricht natürlich die große Bestürzung bei den deutschen Produzenten aus! Das kann man sich gar nicht vorstellen! Im Ausland ist man da viel offener. Bereits in den 70ern hat ja Lina Wertmüller einen Film mit Giancarlo Giannini gemacht, in dem es um die Beziehung seiner Figur zu einer KZ-Aufseherin ging. Damals sind so mutige Filme entstanden, aber in der Zwischenzeit ist das Kino immer harmloser geworden. Man bewegt sich immer mehr in Richtung „Prime-Time-“ oder gar „Vorabendserien-fähig“. Alles muss ab 12 oder, besser noch, ab 6 sein! Ich hatte mal ein Projekt, das hieß MEDUSA und war ganz ähnlich gelagert wie A CURE FOR WELLNESS, nur Jahre zuvor. Ich bekam zwar eine Drehbuchförderung, jedoch wurde die Produktionsförderung nicht gewährt. Ein Vorsitzender einer Landesmedienanstalt hatte getönt, dass das alles zu blutig und brutal sei und sie nie wieder Gelder für einen Film ab 16 frei machen würden. Das ist natürlich hanebüchen! Ein Oscar-Film wie DIE BLECHTROMMEL war ab 16, genauso wie andere Schlöndorff- oder Herzog-Filme. Wenn es nach denen ginge, müsste man heute die Hälfte der Filmgeschichte abschaffen! In diesem Klima kann man überhaupt gar keine gewagteren Themen mehr angehen, die werden sofort abgeschmettert.

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DEADLINE: LAURIN ist ja nun auch ein psychologisch sehr tiefer Film. Das war sehr ambitioniert von dir, mit Mitte zwanzig einen so anspruchsvollen Ausstattungsfilm mit internationaler Besetzung zu inszenieren. Wie konnte man so ein Projekt stemmen?

 

Robert Sigl: Die Idee zu LAURIN entstand mit dem Bild in meinem Kopf von einer jungen Frau in einem weiten, schwarzen Kapuzenmantel, die in einer stürmischen Gewitternacht über einen Friedhof eilt. Um dieses Bild herum habe ich dann die Geschichte gebaut. Die Förderanstalten und der produzierende Sender wurden wohl von der magischen Atmosphäre angezogen, dem Märchenhaften, das an Theodor Storms Schimmelreiter erinnerte. Die Geschichte sollte ja in Norddeutschland spielen. In der psychologischen Überlagerung der Story haben die Geldgeber jetzt nicht unbedingt so etwas Gewagtes gewittert. Letztlich konnte ich den Film so machen, wie es mir vorschwebte.

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DEADLINE: Ihr habt in Ungarn gedreht – inwieweit hat das Team dort einem so jungen, deutschen Regisseur vertraut?

 

Robert Sigl: Natürlich war ich ziemlich nervös. Ich kannte Geschichten von Schauspielern, die sich gewehrt haben, mit so jungen und unerfahrenen Regisseuren zu arbeiten – zumal die Ungarn sehr professionell sind. Ich habe wirklich mit den Stars des Landes für LAURIN gedreht, mit Hédi Temessy und Károly Eperjes, der auch schon in einigen István-Szabó-Filmen, mit dem Brandauer zusammen, gespielt hat. Ich muss sagen, dass meine Ängste im Nachhinein unbegründet waren, denn es wurde wirklich großes Vertrauen von der gesamten Crew in mich gesetzt, sodass wir tatsächlich traumhafte Dreharbeiten ohne jegliche Schwierigkeiten hatten.

 

DEADLINE: Wie hast du den Dreh vorbereitet? Der Film wirkt sehr durchorganisiert. Hast du alles in Storyboards geplant oder hier und da – als junger Regisseur – vor Ort improvisiert?

 

Robert Sigl: LAURIN war sehr sorgfältig vorbereitet. Von den Requisiten über die Farbgebung bis hin zu den spezifischen Einstellungen. In Ungarn hat man sehr gerne ein „Technisches Drehbuch“, in dem jede Einstellung genauestens beschrieben ist, damit jeder genau weiß, was er zu tun hat. Das ging alles reibungslos, ohne Improvisation. Inzwischen mache ich das aber doch schon manchmal, da ich natürlich mehr Routine und Erfahrung habe und trotz guter Vorbereitung mal abschweifen kann, wenn ich sehe, dass wir etwas zeitlich nicht schaffen oder etwas noch einfacher zu realisieren ist. Ich bin kein Freund von hektischen Schnitten und Tausenden Einstellungen von ein und demselben Menschen aus zig Kamerapositionen. Das nennt man „cover your ass“ und ist natürlich den Produzenten und Cuttern am liebsten, da sie sich dann ihren eigenen Film zusammenstellen können. Ich dagegen drehe so, dass nur meine Version möglich ist. Ich drehe nur, was notwendig ist. Dadurch habe ich eine sehr strenge Filmsprache. Mir ist wichtig, dass man sich in jeder Einstellung auf das Gezeigte konzentrieren kann und der Zuschauer geradezu hypnotisiert wird – das ist bei Regisseuren wie Michael Bay kaum möglich.

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DEADLINE: Inwieweit steht LAURIN für dich in einer Tradition des deutschen Horrorfilms?

 

Robert Sigl: Obwohl er in Ungarn mit ungarischen Schauspielern gedreht wurde, ist es ein deutscher Film. Die ganze Inspiration, meine Recherchen in Norddeutschland wurden alle in den Film transportiert. Im Film selbst ist ja von Ungarn nie die Rede, die Figuren tragen deutsche Namen. Aus Kostengründen mussten wir in Osteuropa drehen. Die historischen Aufbauten wären in Deutschland zu teuer geworden. Ich wollte visuell so opulent wie möglich sein. Gemeinsam mit dem Produzenten Bernie Stampfer haben wir uns dann entschieden, nach Ungarn zu gehen. Inzwischen habe ich schon oft in Osteuropa gedreht: in Tschechien, Polen oder auch Rumänien.

Er steht in der deutschen Tradition der Horrorfilme, da er auch diese Langsamkeit aufweist, wie sie ein Carl Theodor Dreyer in seinen Filmen wie etwa VAMPYR hatte. Das ist mein absoluter Lieblingsvampirfilm, der mir noch besser als NOSFERATU gefällt. Daran habe ich mich sehr orientiert. Obwohl er ja eigentlich ein dänischer Film ist, steht er trotzdem in der Tradition des deutschen Horrorkinos.

 

DEADLINE: Grimms Märchen scheinen eine wichtige Inspirationsquelle für dich gewesen zu sein. Wie bist du mit ihren Geschichten in Kontakt gekommen?

 

Robert Sigl: Das war wie mit meiner Begegnung mit den Bildern von TANZ DER VAMPIRE. Ich habe die Zeichnungen zu den Märchen in den Büchern gesehen und wurde sofort von ihnen in den Bann gezogen. Ich bin ein sehr visueller Mensch und brauche einfach Bilder. Das Theater würde mich jetzt nicht so faszinieren wie die Gestaltung von Bildern in der Kamera, bei der man die Blicke der Zuschauer mehr führen kann. Das ist mir ganz wichtig.

 

DEADLINE: Deine Hauptdarstellerin Dóra Szinetár spielt ganz großartig die Rolle der jungen Laurin. Wie hast du sie gefunden?

 

Robert Sigl: Sie ist die Tochter eines sehr berühmten ungarischen Operettenregisseurs, Miklos Szinetár. Ihre Mutter ist auch Schauspielerin, auf der Bühne. Dóra war knapp über zehn Jahre alt, als wir mit dem Dreh angefangen haben. Ich habe sie während der Vorführung des Musicals Les Misérables in der Rolle der Cosette gesehen und war begeistert von ihr. Sie hatte etwas leicht Zwergenhaftes, was ich für die Laurin suchte. Weiblich und klein, zerbrechlich und gleichzeitig burschikos sollte sie sein. Zusammen mit dem Produzenten habe ich sie zu Hause besucht, und obwohl es dann noch Castings mit vielen anderen Mädchen gab, wusste ich schon, dass ich sie als Laurin wollte. Die Arbeit mit ihr war fantastisch, sie war schon als Kind sehr professionell. Sehr intelligent, unglaublich, was sie für Fragen gestellt und Bemerkungen am Set gemacht hat. Nach 28 Jahren habe ich sie jetzt mal wiedergesehen, und das war ein sehr tolles Erlebnis. Sie hat jetzt selbst drei Kinder, hat sich aber kaum verändert. Ich bin total hingerissen von ihrem Charme und ihrer Intelligenz.